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Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen
Hg.. Deutscher Museumsbund e.V (2013)

Der Unrechtskontext

Am Ende ist alles eine Frage der Definition. Doch diese muss erst einmal gefunden werden. Insbesondere in Bezug auf menschliche Überreste scheiden sich die Geister. Deshalb ist ein hohes Maß an Sensibilität gefragt und ein jedes Museum sollte bei jedem einzelnen menschlichen Überrest in seinen Sammlungen folgendes hinterfragen bzw. aufklären:

  • die Umstände des Todes
  • die Umstände des Erwerbs
  • die Umstände der Entstehung (zum Beispiel bei (Ritual-)Gegenständen)

Sobald diese problematisch erscheinen, wird es schwierig. Insbesondere, wenn der Person, deren menschliche Überreste heute im Besitz eines Museums sind, einst Unrecht angetan wurde. In diesem Fall sprechen die Autoren von dem sogenannten Unrechtskontext.

Eine einheitliche Definition von dieser Zuordnung ist allerdings alles andere als einfach, denn Wertvorstellungen unterscheiden sich nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern sie können sich auch von Zeit zu Zeit ändern. Deshalb geht es in erster Linie darum, zu klären, ob bei dem Erwerb oder der Entstehung von einem Unrechtskontext die Rede ist.

Um dies zu verdeutlichen werden zwei Beispiele gegeben.

  1. Die Person war das Opfer einer Gewalttat und/oder Teile ihres Körpers wurden gegen ihren Willen bearbeitet und aufbewahrt

Dies klingt einleuchtend. Und doch ist eine derartige Entscheidung mehr als schwierig. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Als Beispiel führen die Autoren Kopftrophäen an, die aus Gesellschaften stammen, in denen die Kopfjagd praktiziert wurde. Hierbei handelt es sich um eines der ältesten Rituale der Welt, bei dem es um die Tötung eines Menschen geht, um dessen Kopf als Siegestrophäe zu erlangen. Stammt ein solcher Schädel aus einem Gebiet, in dem die Kopfjagd nachweislich Teil des gesellschaftlichen Lebens gewesen ist (Bsp. aus Teilen Papua-Neuguineas oder Indiens), trifft der Unrechtskontext folglich nicht zu. Problematisch wird es allerdings in den Fällen, wo sich die Wertvorstellungen von damals bis heute verändert haben. Es ist und bleibt also eine sensible Angelegenheit und letztlich Abwägungssache.

Eine weitere Ausnahme besteht in all den Fällen, die verjährt sind. Dazu zählen beispielsweise Opfer von Tötungen in der Ur- und Frühgeschichte. Dahinter steckt die ethnologische Sicht, dass die Erinnerung an einen Verstorbenen nach etwa 125 Jahren (fünf Generationen) verblasst. Auch die genealogische, also familiäre Zuordnung zu heute Lebenden ist nach dieser Zeit meist nicht mehr möglich. Grob ausgedrückt: Wenn sich niemand mehr an dich erinnert, hast du kein Recht auf Unrecht. Diese Sichtweise ist problematisch aber auch notwendig, wenn wir menschliche Überreste in unseren Museen ausstellen wollen.

  1. Die menschlichen Überreste sind durch Umstände wie Raub, betrügerische Täuschung oder ähnliche Vergehen in die Sammlung gelangt

Auch das klingt einfacher, als es ist, denn die Beurteilung dessen, was rechtmäßig in ein Museum gelangte und was nicht, ist durchaus schwammig. Was früher rechtens gewesen ist, kann heute als illegal gelten. Immer wieder kommt es deshalb zu Rückgabeforderungen und Diskussionen, nicht nur im Bereich der menschlichen Überreste, sondern bei allen Exponaten. Berühmte Fälle sind beispielsweise die Nofretete-Büste in Berlin oder die Elgin Marbles in London.

Was meint ihr?

Fallen euch noch andere Beispiele ein, bei denen man von einem Unrechtskontext sprechen kann?

Wo liegt bei euch die Grenze zwischen dem, was ethisch vertretbar ist und dem, das nicht sein sollte?


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